Arbeit mit dem Unsichtbaren
Wie man ein Formel-1-Weltmeister-Auto entwickelt
Letzte Runde! Lewis Hamilton fliegt ein letztes Mal über die blinde Kuppe von Kurve 1 des Circuit of The Americas. Es laufen die finalen Sekunden des Austin Grand-Prix 2017 und die Anspannung im Raum ist mit Händen zu greifen. In diesem Jahr sitze ich nicht daheim und schaue das Formel-1-Rennen im Fernsehen, sondern befinde mich im Race Support Room (RSR) das Mercedes-AMG Petronas Formula One Teams, jenes Team, das — wenn jetzt alles gut geht — nur noch Augenblicke vom vierten Konstrukteurs-Weltmeistertitel in Folge entfernt ist. Vor mir: eine Intercom-Konsole und zwei Monitore voller bunter Live-Daten und -Meldungen. Seit einer Stunde gebe ich Funksprüche anderer Teams durch, die unsere Rennstrategie gefährden könnten. Aus meinen Kopfhörern dringen zehn Stimmen gleichzeitig, je nach Priorität unterschiedlich laut. Als Lewis die Ziellinie überfährt und die Zielflagge geschwenkt wird, bin ich regelrecht überrascht. Meine Konzentration war dermaßen in den Bann meiner Aufgaben gezogen, dass ich das allgemeine Renngeschehen kaum mitbekommen habe. Etwas verwirrt blicke ich auf. Haben wir es geschafft? Um mich herum stellt sich ein kollektives Aufspringen und Jubeln ein. Ingenieure befreien sich von ihrer Verkabelung und fallen sich in die Arme… Später ziehen wir alle runter auf den Vorplatz — es ist tiefste Nacht in England — und feiern gebührend mit einer echten Champagner-Schlacht. Ein unvergesslicher Augenblick! Tatsächlich muss ich danach zurück zum RSR, die Klamotten in Alkohol getränkt, und die restlichen Daten an meiner Konsole auswerten. Dennoch: Die Sektlaune bleibt und wir Verbliebenen singen beschwingt weiter: „We are the Champions…“
In der Saison 2017/18 hatte ich die Gelegenheit, ein aufregendes Jahr innerhalb des berüchtigten „Formel-1-Zirkus“ erleben zu dürfen. Nach dem Abitur hat mich mein Luft- und Raumfahrttechnikstudium in das Aerodynamics Department der Mercedes-Teams in Brackley/UK geführt. Eine meiner Erkenntnisse: Erfolge wie der großartige WM-Titel haben eine geringe Halbwertszeit in einer derartig schnelllebigen Welt, in der es immer um den nächsten Schritt, das extra Tausendstel Rundenzeit geht. Was verrät das über die Menschen, die sich so etwas antuen? Zunächst einmal empfindet man über 50 Wochenstunden ohne Arbeitszeiterfassung als Privileg. Formel-1-Ingenieure sind rastlos. Ein Zustand wird niemals als „ausreichend gut“ befunden. Es gibt immer Luft nach oben. Der eigentliche Antrieb ist also vielmehr das fortwährende Streben nach Verbesserung. Eine Sisyphos-Arbeit, romantisch und ideologisch.
In diesem Sinne bekommt jeder schon zu Anfang einen üppigen Brocken Verantwortung überreicht. Es klingt verrückt, wenn ich mir überlege, dass ich als (ahnungslose) Studentin jeden Monat eigene Baureihen veranlasst und das Kommando über die Windkanal-Mannschaft geführt habe und was an monetärem Wert an meinen Entscheidungen hing. Der unbedingte Wunsch, keine Zehn- bis Hunderttausend Pfund in den Sand zu setzen, spornt zur Bestleistung an. Wer keine Verantwortung trägt, wird wenig Motivation für seinen Job verspüren. An diesem Streben nach Perfektion, verbunden mit Vertrauen und Eigenverantwortung werden sich meine zukünftigen Jobs messen lassen müssen.
Die Formel 1 ist emotional, voller Pathos — nicht nur für die Fans. Aber es gibt eine zweite Seite, die mich an diesem Sport fasziniert: Nirgendwo sonst wird der technologische Fortschritt so konsequent verfolgt wie hier. Und jeder noch so kühne Vorschlag wird akzeptiert, solange er Performance bringt. Kosten sind kein Argument. Für einen Ingenieur ist das der perfekte Spielplatz.
Jedes Jahr wird ein komplett neuer Rennwagen entwickelt, welcher sich im Laufe der Saison wiederum komplett selbst überholt. Im letzten Rennen ist kein einziges Teil am Auto noch dasselbe wie zu Saisonbeginn! Die Rennboliden sind wahre Meisterwerke der Ingenieurskunst. Sie erzeugen so viel Abtrieb, dass sie umgedreht sogar an der Decke fahren könnten, explodieren vor Hitze, wenn sie stillstehen und die Motorlufteinlässe nicht sofort gekühlt werden und ihre Dynamik und 1000 Pferdestärken lassen sich überhaupt nur von den besten (und best-bezahlten) Fahrern beherrschen. Und noch etwas: Ihre Performance verdanken sie zu einem Großteil der ausgeklügelten Aerodynamik, denn erst die effiziente Erzeugung von Abtrieb bei geringem Luftwiderstand ermöglicht Beschleunigungen von bis zu 5g — eine fünfmal stärkere Beschleunigung als im freien Fall — und Geradenendgeschwindigkeiten von knapp 400 km/h.
Aber Luftströmungen sind komplex, kompliziert und vor allem: unsichtbar. Wie entwirft und testet man also neue Chassis- und Geometrie-Konzepte? Auf Basis vorausgegangener Analysen werden Bauteile im computergestützten Design (CAD, eine Art „Paint 3D“) konstruiert. Eine neue Idee wird dann in umfangreichen CFD-Simulationen (engl. computational fluid dynamics) für unterschiedliche Fahrzustände — beispielsweise geringe Bodenfreiheit am Ende einer Hochgeschwindigkeitsgeraden, Rollbewegung in engen Kurven oder Stabilitätsverhalten bei starkem Seitenwind — getestet. Das ist auch für die team-eigenen Hochleistungsrechner keine Kleinigkeit. Manche Rechnungen dauern eine Stunde, manche länger als einen Tag. Je nach Fokus der Simulation werden daher Genauigkeit und Gesamtrechenzeit gegeneinander gehandelt. Es gilt zunächst das Feld grob abzustecken und dann erst mithilfe von genaueren Simulationen die Details zu verstehen. Dabei soll nicht nur die Zeit optimal genutzt werden. Gemäß den technischen Regularien der Formel 1 ist die Gesamtrechenkapazität (Terraflops/Rechenoperationen pro Monat) nämlich begrenzt.
Mit den Simulationsergebnissen in der Hand folgt der nächste, nicht minder schwierige Schritt: Es gilt die richtigen Schlüsse aus den CFD-Resultaten zu ziehen. Deuten diese womöglich auf einen Strömungsabriss hin? Welche Trends zeigen die Abtriebs- und Luftwiderstandsbeiwerte einzelner Geometrien im Verhältnis zum Gesamtwagen? Ergeben sich daraus Balance-Änderungen und eine neue Fahrdynamik? Wie beeinflusst die Modifikation eines Bauteils das Strömungsbild weiter gen Heck? Zeigen die Resultate eine lokale Verbesserung, während ein anderer Bereich negativ beeinflusst wird und lässt sich das einfach beheben oder würde das eine Kaskade an Maßnahmen auslösen, die den potenziellen Gewinn nicht mehr rechtfertigen?
Hat sich der Aerodynamiker unter immensen Kopfschmerzen dann für die Konzepte entschieden, die im CFD überzeugen konnten, werden diese dem ultimativen Test unterzogen: dem Windkanal-Experiment. Dafür werden die auserkorenen Bauteile in der eigenen Rapid-Prototyping-Facility für die anstehende Windtunnel-Session 3D-gedruckt — allerdings regularienbedingt nur in 60% der Originalgröße. Das hat zwar vorrangig wirtschaftliche Gründe, zieht aber einige Implikation hinsichtlich der Aerodynamik mit sich. In der Strömungslehre gibt es eine Ähnlichkeitstheorie, die besagt, dass sich skalierte Strömungen gleich verhalten, wenn die dimensionslosen Kennzahlen konstant gehalten werden können. Heißt: Will man den originalen Rennwagen bei einer bestimmten Geschwindigkeit untersuchen, testet man im Windkanal das kleinere Modellauto bei proportional niedrigeren Geschwindigkeit und erhält (theoretisch) dasselbe Strömungsbild.
Eine solche Windkanalanlage ist beeindruckend. Riesige Luftmassen zirkulieren mit bis zu 180 km/h, getrieben von einem Megawatt-Propeller — also einer veritablen Windkraftanlage, die bei Windstärke elf läuft — durch die haushohen Rohre. Aufgrund von Strömungsturbulenzen und Vibrationen ist die gesamte Anlage auf einem seismischen Fundament gelagert. Der eigentliche Testbereich ist eine vergleichsweise kleine Sektion, vor der der Luftstrom auf den gewünschten Wert beschleunigt und geglättet wird. Von einem Hexapod gesteuert hängt das Modellauto von der Decke herab und wird mit dem entsprechenden Winkel auf den rollenden Belt gedrückt. Dieser Belt ist im Prinzip ein hauchdünner Stahlmantel, der ähnlich einem Laufband abrollt und den Asphalt simuliert. Unter dem Belt und unter jedem Rad befinden sich Messwaagen. Da die Luftströmung nun verschiedene aerodynamische Kräfte auf das Modellauto ausübt, verändern sich auch die Einzellasten auf diese Waagen und die gesamte Lastverteilung. Daraus lassen sich Rückschlüsse auf die Strömungskoeffizienten und die Balance-Verschiebung ziehen. Zudem übersäen Hunderte von millimetergroßen Drucksensoren den Unterboden und interessante Oberflächenbereiche des Modellautos. Deren Live-Daten werden während des Testlaufs zu graphischen Druckverteilungen aufbereitet und vom Aerodynamiker zur Entscheidungsfindung herangezogen: Welches Teil bleibt, welches muss gehen? Der Windkanal wird rund um die Uhr betrieben, von vier Ingenieursgruppen, die auf verschiedene Bereiche vom Rennwagen spezialisiert sind. Eine Gruppe tritt aus einer solchen Test-Session dann mit etwa ein bis fünf Updates heraus. Von 100 Ideen, die jede Person entwickelt, werden nach der Simulation etwa zehn getestet. Wirklich umgesetzt wird nach insgesamt vier Wochen Entwicklung maximal ein erfolgreiches Konzept. Eine Ausbeute von einem Prozent. Das ist die traurige Realität und unterstreicht noch einmal, wie schwierig die Arbeit mit dem Unsichtbaren ist. Die erfolgreich getesteten Bauteile werden dann aber umgehend in die Full-Size-Produktion gegeben, also aus Vollkarbon gebacken, wodurch die originalgroßen Bauteile nicht selten leichter sind als ihrer 3D-gedruckten, 60-Prozent-Äquivalente.
Für eine Aero-Gruppe beginnt dann die Auswertung der restlichen Testresultate und die Ideenfindung und damit der vierwöchige Zyklus von neuem. Ich kann aus eigener Erfahrung sagen, dass dieses Rotationsprinzip viel Abwechslung in den Arbeitsalltag bringt. Schließlich sind der kreative Entwurf am Computer und die strategische Exekution im Windkanal zwei grundlegend verschiedene Dinge. Ich erinnere mich noch an das erste Mal, als einer meiner Entwürfe tatsächlich für den Renneinsatz freigegeben wurde. Es ist ein unglaubliches Gefühl, mit dem Finger auf den Fernsehbildschirm zu deuten und voller Stolz zu rufen: „Siehst du dieses Bauteil da an Lewis‘ Rennwagen? Das gehört mir!“
Sources: